Mit leichtem Gepäck auf der Suche nach der Heimat
Ich kann die Story über die Lyrikerin Hilde Domin nicht beginnen, ohne Ihnen, liebes Publikum, die Situation zu beschreiben, in der mir ihr Name das erste Mal begegnet ist. Das geschah in der Zeit meiner Heimatlosigkeit, und das ist die Verbindung zwischen uns beiden, weil die Dichterin auch länger als zwei Jahrzehnte heimatlos war. Ein Merkmal aller Diktaturen ist, „Menschen wie wir, wir unter ihnen“, wie Domin dichtete, gnadenlos zu vernichten und zu vertreiben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ex-Jugoslawien als eine Föderation der Südslawen eingerichtet. Diese sozialistische Republik hat man im Westen oft politisch verklärt, indem man sie als ein gelungenes Konglomerat von Religionen und Kulturen bezeichnete. Es ist mir rätselhaft, wie dieses idealistische Bild meiner ersten Heimat entstehen konnte, weil sie im Prinzip eine Diktatur war, in der Ideologie, Zensur und Selbstzensur alle Freigeister – Denker und Künstler – lähmten und mundtot machten. Die Machthaber passten wohl darauf auf, welche Bücher man aus dem Westen, auch aus dem deutschsprachigen Raum, in unsere Sprache übertragen durfte. Die Herausgeber der marxistischen Schriften wurden reichlich unterstützt, und diese Werke stellten die Pflichtlektüre dar, an allen Schulen und Fakultäten. Deutsche Klassik war auch beliebt, von Goethe bis Thomas Mann. Die Werke des Nobelpreisträgers zum Beispiel lieferten eine Menge an Beweisen, dass die Kapitalisten seit eh und je eine verdorbene, dekadente Kaste bildeten, die Arbeiter ausbeutete.
Die Werke von Autorinnen wurden sehr selten übersetzt, außer denen der Sozialistin Rosa Luxemburg, die mich persönlich nicht interessierten.
Die Schriftstellerinnen und Denkerinnen der deutschen Sprache waren mir vollkommen unbekannt, und überhaupt hatte ich keine Ahnung davon, wie sich die Kultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte.
Anfang der Neunziger krachte der Sozialismus in Ex-Jugoslawien zusammen, besonders verheerend und blutig in Bosnie+n und Herzegowina. In einem fast vierjährigen Krieg registrierte die Kriegsstatistik etwa 150 000 Tote, meist Muslime, und eine Million Flüchtlinge.
Meine Familie hatte mit viel Glück überlebt und Ende 1992 landeten wir in Deutschland, in einem uns total fremden Land. Einerseits waren wir, meine Töchter und ich, dem Schicksal dankbar, weil wir dem Inferno unversehrt entkommen waren. Anderseits aber geriet ich in ein geistiges Vakuum, das ich psychisch kaum ertragen konnte. Ich hatte keine Sprache zum Lesen und ohne Lesen konnte ich mir mein Leben nicht vorstellen. Ein paar absolvierte Deutsch-Kurse reichten aber gerade, um als Haushaltshilfe arbeiten zu können.
Niedergeschlagen und von meiner Sprachlosigkeit gehandikapt, wohnte ich eines Abends 1993 einem Kirchenkreis bei, der im Wohnzimmer einer engagierten, deutschen Familie stattfand. Es ging um humanitäre Hilfe für die Kriegsflüchtlinge in Bosnien. Die Gastgeber und ihre Freunde besprachen die Transportmöglichkeiten für die gesammelten Hilfsgüter in die belagerte Stadt Sarajevo.
Ich konnte kaum verstehen, worüber sie diskutierten. Auf einem kleinen Tisch zwischen zwei Sofas lag ein Gedichtband, den ich gedankenlos aufschlug. Plötzlich las ich Worte, die ich verstehen konnte: „Sisyphus“, das war der Titel eines Gedichts, darunter eine Zeile mit: „Variationen, Imperativ, Mallarmé“. Für einige Sekunden fand ich mich in meiner Welt wieder und merkte mir den Namen der Dichterin: Hilde Domin. Ich überflog ihre Biographie und das Wort „Exil“ fiel mir auf. Exil war ein Code, der mir vertraut vorkam.
„Diese Dichterin ist jetzt sehr in“, sagte die Frau, die neben mir saß. „In“, verwundert sah ich mich um, weil ich das als „Hilde Domin ist unter uns“ verstand. Zum Glück sagte ich das nicht laut.
Beim Abschied schenkte mir die Gastgeberin Domins Gedichtband. Es dauerte eine Weile, bis sich mein Deutsch so weit entwickelt hatte, dass ich Domins Gedichte wirklich lesen und verstehen konnte. Aber von Anfang an hatten sie für mich eine heilende Wirkung. Sie weckten mein Interesse für die anderen Dichter, Schriftsteller und Denker Deutschlands, die in der Ära der Nationalsozialisten verfolgt und vernichtet worden waren. Das half mir, meine Probleme zu relativieren, mich aufzuraffen und das Exil als eine Bereicherung zu betrachten.
Nun beginne ich endlich mit ihrer Geschichte, die mich so tief berührt hat, genauso wie ihre Gedichte.